Satomi Edo

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Lady - made
Von seidenen Fäden
Das Schloss - Das Paradies
α und Ω

There’s a shadow hanging over me

Worum geht es hier eigentlich? Das ist alles eine Frage der Zeit. Und eine Frage nach Heimat. Es geht um Patchwork. Und um Familie. Es geht um Deutschland und Japan, um drinnen und draußen, gestern und heute, um Handwerk und Kunst.

Und obwohl das furchtbar allgemein klingen mag, betreten wir hier doch einen sehr privaten Raum, haben wir es hier mit einer höchst persönlichen Ausstellung zu tun. Dennoch werden wir als Zuschauer nie in die Rolle des Voyeurs gedrängt, was, um das schon einmal vorwegzunehmen, eine der vielen Qualitäten dieser Ausstellung ausmacht.

Ich gebe es zu, die Vielfalt der künstlerischen Medien ist manchmal verwirrend: Vom Aquarell zum Video, vom Stickbild zur Performance wird hier alles geboten. Die technische Präzision einerseits und andererseits der ramponierte Charme der Flohmarktware, des sichtbar Zusammengebastelten. Das sind ästhetisch oft sehr unterschiedliche Wege; treffen tun sie sich in einer Haltung, einer Art des Denkens, denn letztlich ist Satomi Edo das, was man eine konzeptuelle Künstlerin nennt, deren Werk um zwei Zentren kreist, das Prozesshafte und das selbst Erlebte.

Satomi Edo tut hier zuvörderst eines: Sie begreift diese Ausstellungsräume als das was sie sind, als ein Ganzes, ein ehemals bewohntes Haus – und entsprechend füllt sie das ganze Haus mit Leben, sie belebt es manchmal mit imaginiertem, manchmal mit verflossenem Leben, manchmal auch nur mit den Gespenstern der Vergangenheit.

Aber damit greife ich vielleicht schon zu weit voraus. Beginnen wir lieber mit dem Konkreten: Und was könnte konkreter sein als die guten alten Klinker westfälischer Wohnbauten?

Vielleicht haben Sie es schon beim Blick von außen durch die Fenster gesehen: Es gibt hier durch alle drei Geschosse hindurch ein neues architektonisches Element, einen aus Backsteinen gemauerten Pfeiler, der sich vom Erdgeschoss bis zum Dachboden zieht. Tja, und wie das so ist mit den Klischees, in diesem Falle dem von der westfälischen Qualitätsarbeit – mit Blick auf diesen Mittelpfeiler kann ich nur sagen: Ätsch, reingefallen, denn das, was wir hier sehen, ist überhaupt kein Mauerwerk, sondern bloß sorgfältig ringsum aufgeklebte Fototapete.

Diese Wahrnehmungsfalle hat die Künstlerin aber nicht errichtet, um ihr Publikum hereinzulegen, sondern um mit vertretbarem Aufwand eine großartige visuelle Klammer für die gesamte Ausstellung zu schaffen. Wie schon erwähnt, haben wir so eine direkte wahrnehmbare Verbindung aller Räume in der Vertikalen – wir haben aber ebenso eine ganz erstaunliche Vertauschung von innen und außen, denn die Tapete basiert auf Photos von der Außenwand dieses Gebäudes. Das heißt, Satomi Edo verlegt die Außenseite des Hauses nach innen, verdoppelt quasi die gemauerte Hülle dieses Bauwerks. Wenn diese Schein-Ziegelmauer aber in Wahrheit eine Außenwand ist, dann müsste es ja auch ein Dahinter geben, einen Innenraum – der vielleicht ein schreckliches Geheimnis birgt wie bei Edgar Allan Poe oder aber einen nicht betretbaren Innenraum, eine Art von Allerheiligstem. Sie sehen schon: Es gelingt der Künstlerin auf Anhieb, unsere Phantasie in Gang zu setzen und vor allem unser räumliche Vorstellung auf Trab zu bringen.

Lassen wir uns zunächst einmal vom senkrechten Pseudoziegelpfeiler raketenartig ins oberste Stockwerk katapultieren. Was erwartet uns dort? Ein leerer Raum. Genauer gesagt: Ein Raum der Erwartung. Wir sehen ein Video, das man am ehesten als gefilmte Performance bezeichnen könnte und das den schlichten Titel Room trägt. Das titelgebende Zimmer ist leer. Ein blanker, glatter Fußboden, nackte Wände, ein Stück weißer Decke, wir blicken frontal auf die beiden großen Sprossenfenster über den zwei Heizkörpern an der Stirnseite des Raumes, durch die dünnen weißen Vorhänge dringt helles Tageslicht. An die Wand gelehnt steht in einem nachthemdähnlichen, dünnen weißen Kleid die Künstlerin.

Sie beginnt sich zu bewegen, genau abgezirkelt, fast ritualisiert scheinen ihre Bewegungen, wie eine Art reduziertesten Tanzes – dabei macht sie nichts anderes, als zu den Fenstern zu laufen, durch die Vorhänge zu spähen, sie aufzuziehen oder wieder zuzuziehen, sich auf den Fußboden zu setzen, seitlich ausgestreckt hinzulegen, im Kreis zu gehen, sich an die andere Wand zu lehnen, sitzend oder stehend. Beinahe immer wendet die Künstlerin uns dabei den Rücken zu, ihre konzentrierte Aufmerksamkeit wird spürbar, richtet sich aber ausschließlich nach draußen, auf das, was vor dem Fenster ist oder vorn dort hereinkommen könnte. Das einzige, was wir wahrnehmen können, sind, bei offenen Vorhängen, das Laub großer Bäume und gedämpfte Geräusche von Autos oder Maschinen. Das Schönste ist der wolkenbedingt wechselnde Einfall des Tageslichts. Da nichts außer den Vorhängen dieses Licht filtert oder trübt, taucht es auch den ganzen Raum in unterschiedliche Schattierungen von Weiß. Wahrscheinlich durch die Kameratechnik verstärkt, sieht der Raum dann mal bläulich kühl, mal eher warm gelb aus.

Ohne die Vorhänge wirkt die Person im Zimmer völlig schutzlos. Sind sie zugezogen, hat man den Eindruck, wenigstens ein Hauch von Privatheit sei möglich. Insgesamt wirkt der Raum aber ähnlich wie die leere Bühne in einem Beckett-Stück, und der Mensch darin existentiell ausgesetzt, wie in der Zelle eines Gefängnisses oder einer geschlossenen Anstalt. Ihm bleibt nur das Warten, Abwarten, sehnsüchtige Erwarten, dass etwas geschehen möge

Auf dem Weg nach unten ins Zwischengeschoß landen wir dann im dunkel melancholischen Raum der Erinnerung. Auch hier dominiert ein an die Wand projiziertes Video das Geschehen.

Auf visueller Ebene besteht es aus einem Schattenspiel, dem Auftauchen bildlicher Erinnerungen aus der Dunkelheit des Gedächtnisses, auf akustischer Ebene aus einer Art fragmentarischer Autobiographie der Künstlerin, beide festgemacht an den unterschiedlichen Wohnsituationen, die Satomi Edo im Lauf ihres Lebens erfahren hat.

Die Künstlerin liest, auf Deutsch, manchmal stockend und in unverkennbar japanischem Akzent, unverbundene Erinnerungsstücke an ihre verschiedenen Heimaten vor.

Als Basis für das Schattenspiel dient ihr dabei eine Art isometrischer Konstruktion all ihrer Zuhauses, die sie im Modell aus dünnen Holzleisten gebaut hat, übereinandergestapelt und ineinandergeschachtelt.

Mit handbewegter Taschenlampe werden wandernde Schatten dieses Modells erzeugt, die strenge Geometrie bekommt so etwas absolut traumhaftes, schwebendes, den Charakter einer Erscheinung, die schemenhaft auftaucht und wieder in völliger Dunkelheit versinkt.

Manchmal bleibt das filmische Bild für eine Weile unverändert stehen, als schwarze Umrisszeichnung an weiß leuchtender Wand, schlicht und wiederkennbar oder als verwirrendes räumliches Geflecht schwarzer Schattenlinien.

Stellenweise gibt es keinen Text, stellenweise kein Bild außer einem im Dunkel kaum sichtbar werdenden, weiß gestrichenen Mauerwerk. Oder im vollen Licht einen einzelnen, schattenwerfenden Nagel auf dieser weißen Wand.

Es kommen auch Doppelbelichtungen vor, statische und bewegte Schatten überlagern einander; plötzlich gibt es auch eine kurze Kamerafahrt über eine leere Wandfläche, hoch an die Decke zu einer leuchtenden, nackten Glühbirne. Langsam zoomt die Kamera darauf zu bis sie ein bloßer Lichtfleck wird (das ist die Situation des Bildes auf der Einladungskarte).

Der Text gipfelt in der Beschreibung der qualitätvollen und bestens isolierten Architektur deutscher Studentenwohnheime „Ich hatte das Gefühl, daß in den Sommerferien mein Gehirn beinahe geschmolzen wäre.“

Und er endet in der Beschreibung völliger Einsamkeit inmitten unzähliger Kommilitonen.

Daß es sich hier um einen sehr persönlichen Raum der Erinnerung handelt, wird auch an anderen, scheinbar beiläufig platzierten Kleinigkeiten erkennbar: Da gibt es z.B. unter der Treppe reproduzierte Erinnerungsphotos, ein Hochzeitsbild der Eltern und zwei Porträts der Künstlerin als Baby, einmal mit geschlossenen Augen, einmal mit offenen.

Wir sollten eher die Augen offen halten – so auch hier unten, im Raum des Erdgeschosses. An dieser Wand hängt eine Folge von sechs Aquarellen. Sie scheinen einer ganz anderen Welt zu entstammen, nicht nur wegen der so anderen künstlerischen Technik, sondern auch wegen ihres zarten, poetischen, träumerischen Charakters, von schillernder, gleichwohl zurückhaltender Farbigkeit.

Aber die Künstlerin beharrt darauf, daß diese Aquarelle eigentlich ihr Ideenreservoir sind; wie andere Künstler mit dem Bleistift Skizzen notieren, so macht Satomi Edo diese Pinselzeichnungen. Für sie ist es eine handwerkliche Tätigkeit, die sie fast schon nebenbei und halb automatisch erledigt, meditativ und selbstvergessen und überhaupt nicht zielgerichtet.

Damit ergibt sich plötzlich eine Parallele zur Handarbeit von Hausfrauen, die beständig stricken oder sticken (was sie auch können, ohne mit dem Reden oder in neueren Zeiten dem Fernsehen aufzuhören). Eine Parallele auch zur handwerklich sehr begabten Mutter der Künstlerin, die es zu einiger Könnerschaft in der Kunst des Papierfaltens brachte und ganze Kinderbücher selbst gestaltete.

Damit steuern wir, Sie ahnen es schon, zielstrebig auf die anderen Bilder hier unten zu: Hatten wir es im Obergeschoß mit dem Aneinanderfügen von Fragmenten der Erinnerung zu tun, so begegnen uns hier übereinandergeschichtete bildliche Fragmente, Patchwork im wahrsten Sinne des Wortes: Hier wird ein Textil mit anderen benäht. Meistens sind die Hinzufügungen der Künstlerin zurückhaltender Art. Sie nimmt fertige Stickbilder, wie sie sie im Trödel und auf Flohmärkten findet, mitsamt ihren Rahmen und Aufhängehaken, bestimmt die Bildausrichtung (die kann der originalen entsprechen, genauso gut kann sie gedreht oder auf dem Kopf stehend sein) und darauf appliziert Satomi Edo wahlweise ebenfalls vorgefertigte Zierborten und textile Figuren oder selbstgenähte bildliche Elemente. Manchmal erkennt man die Hinzufügungen gar nicht, manchmal verdecken sie das Ursprungsbild nahezu vollständig, meist aber befinden wir uns in einem merkwürdigen Zwischenreich, in dem wir erst einmal den Boden unter den Füßen verlieren als Betrachter, weil wir so gar nicht wissen, wie wir das einordnen sollen, weder ästhetisch noch inhaltlich.

Also ich mag diese Bilder, obwohl sie nicht ganz zu Unrecht unter erheblichem Kitschverdacht stehen. Aber diese Addition von Kitsch plus Kitsch hebt ihn letztlich auf und heraus kommt etwas gänzlich Neues, eine Art von rätselhafter Doppelbelichtung:

Da gibt es beispielsweise eine mitteleuropäische Vorgebirgslandschaft mit Schäflein und blühenden Bäumen – in die setzt die Künstlerin ein aus verschiedenen Stoffen zusammengesetztes japanisches Haus, dessen Mauern wiederum aus einem mit Blütenranken bedruckten Stoff bestehen.

Auf einer winzigen Winterlandschaft und über einer kopfüber von ihrem Ast hängenden Eule entdecken wir Applikationen, die das angebissene Apfel-Symbol der Firma Macintosh darstellen – und plötzlich merken wir, dass die Ästhetik dieser Stickbilder gar nicht so weit entfernt ist vom groben Gepixel manch alter Computergraphik.

All diese Doppelstickbilder (sofern sie zum Ensemble Lady-Made gehören) werden nun noch dadurch miteinander verbunden, dass in ihrer Mitte ein elektrisch betriebener Motor einen Holzstock wie einen Uhrzeiger im Kreis bewegt, der nacheinander auf jedes Bild einzeln hinzuweisen scheint – aber genauso gut auf die nimmermüde Tätigkeit der handarbeitenden Frauen und das dadurch sinnvoll genutzte unablässige Verstreichen der Zeit.

Es ist aber nicht alleine eine Pseudo-Uhr, was da im Kreis sich dreht: an das Ende des Stöckchens hat die Künstlerin nämlich einen Faden geknüpft, an dessen unterem Ende eine Nähnadel hängt, die durch die rotierende Bewegung des Antriebsrades sacht vom Boden aufgehoben wird, in die Höhe schwebt und sich wieder herabsenkt. Die grob zusammengeschusterte Maschine erzeugt so das ganz zarte, wunderhübsch anzusehende Ballett einer schwebenden Nähnadel als Sinnbild für hausfraulichen Zeitvertreib, und eine nicht nur Deutschland und Japan verbindende, sondern weltumspannende Konstante weiblicher Tätigkeit.

Das zeigt einmal mehr, dass bei aller Konzeptualität die Haltung der Künstlerin grundlegend eine poetisch-lyrische ist. Narrativ ist ihre Kunst nicht immer, aber stets drängt sie den Betrachter auf eine sprachlich konkrete Ebene, sie greift viele Erzählfäden auf, verwebt sie zu etwas Neuem, lässt sie aber ebenso offen ausfransen, so daß jeder ganz viel und ganz viel Eigenes daran knüpfen kann.

Ich z.B. mein Fachgebiet der Kunstgeschichte: Es gibt hier ein auf den Kopf gedrehtes, altniederländisches Interieur zu entdecken, mit einer jetzt kaum noch zu erkennenden, sitzenden Briefleserin – da fliegt ein kleiner Dreier-Schwarm weißer Silhouettentauben durchs Zimmer. Durch ihre unterschiedlichen Größen verleihen sie dem Raum eine unglaubliche perspektivische Tiefe und die kleinteiligen Gitterfenster mutieren zu Käfigen, aus denen sie entflohen sein könnten.

Und dann gibt es auch noch die beinahe schon obligatorischen „betenden Hände“ von Dürer, die hier, verdreht und mit zwei auffliegenden weißen Taubensilhouetten so kombiniert sind, daß man entweder meint, sie wollten das klassische Schattenspiel eines fliegenden Vogels aufführen, also die weißen Flattertiere nachahmen, oder aber sie wie lästige Fliegen zu fangen versuchen.

Sie müssen jetzt weder Fliegen noch Vögel fangen – aber in die Hände klatschen dürfen Sie trotzdem.

Dr. Stephan Trescher

Rede zur Eröffnung der Ausstellung Satomi Edo –…gestrige Anwesenheit
im Kunstverein Greven am 28. Oktober 2016